U-977 auf der Flucht nach Argentinien

Von Dietmar Nix

Wenige Tage vor Kriegsende erhält Heinz Schaeffer, seit Weihnachten 1944 Kommandant von U 977 auf Station vor der norwegischen Küste, einen Durchhaltebefehl der Seekriegsleitung, kurz darauf einen Funkspruch ohne Absender mit Kapitulationsbefehl, wieder darauf gegenteilig lautende Anweisungen der Seekriegsleitung, anschließend einen Befehl, der das Boot dem Befehl der Alliierten unterstellt, wiederum ohne Absender. Er hat Anlaß zum Verdacht, manipulierte Befehle des Gegners erhalten zu haben, obwohl er aus anderen Quellen weiß, daß die Kriegshandlungen kurz vor dem Ende stehen. Sein Fazit der Nachrichtenlage ist, daß er nicht Anweisungen folgen kann, die offensichtlich dem Gegner dienen, solange er keine Beweise dafür hat, daß dies im Sinne seiner deutschen Vorgesetzten ist. Er beschließt daher, nach eigenem Ermessen zu handeln. Er schlägt der Mannschaft am 9. Mai 1945 vor, die Odyssee einer Atlantikdurchquerung zu wagen, um Zeit zu gewinnen und um eventuell im neutralen Ausland bessere Zukunftschancen zu suchen als die sichere Kriegsgefangenschaft. Insbesondere der berüchtigte Morgenthau-Plan der US-Amerikaner und andere von offenkundigem Haß geleitete Absichten einer zukünftigen Besatzungspolitik in Deutschland bestimmen seine Entscheidung. Von 48 Besatzungsmitglieder stimmen 30 (unverheiratete) zu, zwei wollen nach Spanien und 16 Verheiratete zu ihren Familien nach Hause.

Am 10. Mai erhalten die 16 Besatzungsmitglieder Gelegenheit, an der norwegischen Küste an Land zu gehen, um von dort aus ihre jeweiligen Ziele zu erreichen. U-977 und seine verbleibenden 32 Mann Besatzung treten eine lange Fahrt an, die auf der Nordpassage um England herumführt in den Atlantik bis nach Südamerika. Das Boot fährt Tags über auf 50 Meter Seetiefe mit Batteriestrom und Nachts auf Schnorcheltiefe, um während der Dieselfahrt die Batterien für den nächsten Tag aufzuladen. Während der Schnorchelfahrt kann die eingesaugte Frischluft nur für die Motoren verwendet werden, so daß nach zwei Monaten die Sauerstoff-Flaschen und Atemluft knapp werden. Abfälle werden durch ein leeres Torpedo-Rohr nach außen geblasen. Obwohl es zur Erleichterung und Platzersparnis beigetragen hätte, die noch vollständig unbenutzte Torpedo-Ladung außenbords zu schießen, lehnt dies Schaeffer ab. Er will in Argentinien beweisen können, daß sein Boot nicht noch nach dem Ende der Kriegshandlungen Schiffe torpediert und somit das Kriegsrecht verletzt hat.

Während der langen Tauchfahrt läßt die feuchtwarme Luft nahezu alles im Inneren des Bootes entweder verrosten oder verschimmeln. Unter der Mannschaft zeigen sich erste Mangelkrankheiten und Streitereien. Schaeffer berichtet, daß die Wände flächendeckend schimmelgrün wurden. Nach 66 Tagen pausenloser Unterwasser-Reise wagt er das erste Mal den Aufstieg über die Wasseroberfläche. Er befindet sich bereits in einem Teil des Atlantik, der voraussichtlich nicht mehr von gegnerischen Schiffen und Flugzeugen überwacht wird. Nun wird der nächtliche Fahrtabschnitt an die Wasseroberfläche verlegt. Dabei berührt für eine Stunde ein Luxusdampfer den Kurs des Bootes. Die auf Deck lachenden Reisegäste im strahlenden Licht bemerken den aufgetaucht fahrenden "Grauen Wolf" neben sich nicht. Schaeffer muß Treibstoff sparen und fällt rasch hinter dem schnelleren Schiff zurück, "der Wolf hatte keine Zähne mehr", wie er anmerkt. Erstmals können nun auch wieder Rundfunkmeldungen empfangen werden, die das ganze Ausmaß der Katastrophenlage und den Hunger in der Heimat schildern. Viele sorgen sich um die Angehörigen zu Hause.

Das bereits anfangs befürchtete Treibstoff-Problem wird nach 1.800 Seemeilen akut. Bis dahin ist bereits die Hälfte der bei Fahrtbeginn verfügbaren 80 Tonnen Dieselöl verbraucht, während noch 5.500 Seemeilen zurückzulegen sind bis zur südamerikanischen Küste. Die Mannschaft verzweifelt an Sinn und Erfolg ihres Wagnisses. Schaeffer läßt sich jedoch nicht irritieren. Er kürzt die Zeit der Überwasserfahrt mit Diesel auf 10 Stunden bei niedrigster Fahrstufe. Die damit erreichte Ersparnis im Verbrauch muß nach seiner Rechnung bis zur Küste reichen. Notfalls beabsichtigt er, Segel nähen zu lassen und die kürzere Fahrtstrecke nach Brasilien zu nehmen. Er befiehlt, das vergammelte Boot zu reinigen und schulmäßig bis zur letzten Schraube zu revidieren, um der Mannschaft den für die restliche Strecke notwendigen Optimismus und ablenkende Beschäftigung zu erhalten. Der erste Wachoffizier, durch dessen gefährliche Nachlässigkeit zuvor bereits das Hauptperiskop zerstört wurde, verbreitet offen seine Opposition gegen die Reinigung. Sie ist nach seiner Meinung sinnlos, da das Boot ja ohnehin vor Südamerika versenkt werde. Schaeffer enthebt den Mann seines Postens und läßt ihn entwaffen.

Als U-977 die Kapverdischen Inseln erreicht, beschließt Schaeffer einen kurzen Urlaub auf dem unbewohnten Eiland "Branca". Die Mannschaft badet im Meer und sonnt sich auf dem Oberdeck, gelegentlich abgekühlt durch einen Feuerlösch-Schlauch. Die Landung an der Küste mit Schlauchbooten scheitert jedoch an der starken Brandung. Nach dem Vorbild früher gesehener Wochenschauen werden Wasserskier gebaut und seitlich am Boot befestigt, das nun Wasserski-Einsätze fährt. Mit Handgranaten und selbstgebastelten Harpunen werden Fische für die Küche gejagt, Essen und Nachtruhe sind gänzlich auf das Oberdeck verlegt. Eine nächtliche Feier auf Deck beschließt den Urlaub.

Für die weitere Fahrt wird mit Hilfe von Leinentüchern eine Kulisse um das Boot gebaut, damit es aus der Ferne wie ein Frachter aussieht und auch tagsüber offen fahren kann. Ein Blechrohr, unter dem verölter Abfall verbrannt wird, imitiert den Schornstein. Als neue Erfindung wird ein Waschsystem für die Kleidung eingeführt. Sie wird an Leinen gebunden hinter dem Boot hergezogen, wobei Salzwasser und Strömung nach Beobachtung Schaeffers effektiver als Waschmaschinen wirken. Als der Äquator erreicht wird, setzt er die traditionelle Äquatortaufe nach Art der deutschen U-Boot-Waffe an, während welcher der Bootsführer verkleidet als Neptun und Thetis mit einem ebenfalls kostümierten Hofgefolge jedem Mitglied der Mannschaft Lohn und Strafe für seine Bordleistung zuweisen. Während der nächtlichen Feier sind Flugzeug-Geräusche zu hören, Schaeffer befiehlt die Mannschaft auf Gefechtsposten. "Thetis, die Tochter Neptuns, sitzt an der 3,7-Zentimeter Kanone. Hofarzt und Barbier halten jeder ein Maschinengewehr. Das Gefolge steht bereit, damit gegebenenfalls das Tauchmanöver ausgeführt werden kann." Doch das Flugzeug fliegt vorbei, das Fest geht weiter.

Als sich U-977 dem südamerikanischen Kontinent nähert und Südkurs der Küste entlang nimmt, fehlen die notwendigen Karten, da das Boot für den Einsatz im Nordatlantik ausgerüstet wurde. Aus Handlexika an Bord müssen eigene Karten und die Abfolge der Küstenstädte skizziert werden. Über Rundfunk wird die Meldung abgehört, daß U-530 unter Kommandant Otto Wermuth in Mar del Plata eingelaufen ist und später an die USA ausgeliefert wurde. Die entsetzte Mannschaft möchte daher das Boot versenken und sich illegal nach Argentinien einschmuggeln. Rucksäcke werden gepackt, teilweise mit Werkzeugen, um etwa eine neue Zukunft als Mechaniker zu versuchen. Schaeffer spürt die Verantwortung der Entscheidung, entschließt sich dann, das Boot auf keinen Fall zu versenken, sondern offiziell in Mar del Plata einzulaufen und das Risiko der Gefangenschaft zu wagen. Wiederum stellt Schaeffer seine Mannschaft vor die Wahl. Seine Argumente: Nur mit Uniformen versehen und ohne Zivilkleidung sei bald die erste Verhaftung zu befürchten. Eine genüge schon, um die Sicherheitsbehörden über die Landung des Wehrmachtbootes zu informieren und in einer landesweiten Fahndung auch die restlichen Soldaten aufzuspüren. Selbst wer nicht verhaftet werde, finde seinen Namen auf den Fahndungslisten aller Polizeistationen und habe ohne eigenen Namen keine Chance mehr für eine Zukunft als Einwanderer. Jedes während der Reise von U-977 versenkte Schiff oder andere Probleme können dem Boot und seiner Besatzung vorgeworfen werden. Dies sei nicht widerlegbar, wenn alle Gegenbeweise mit dem Boot vor der Küste versenkt sind. Wer nicht offiziell das Land betrete, gerate leicht in den Verdacht, etwas verbergen zu wollen. Die Mannschaft entschließt sich erneut mehrheitlich, Schaeffers Vorschlag zu folgen.


Kommandant Heinz Schaeffer Bild links: Konrad Georg Heinz Schaeffer als Kommandant seines ersten U-Bootes U-148

Bildquelle: Heinz Schaeffer: "U-977 Geheimfahrt nach Südamerika".
Wiesbaden 1974
Bild rechts: Der "graue Wolf": Kommandant Schaeffer nach langer Tauchfahrt

Bildquelle: Heinz Schaeffer: "U-977 Geheimfahrt nach Südamerika".
Wiesbaden 1974
Kommandant Heinz Schaeffer
Schaeffers "Kriegsgefangenschaft" war nicht ganz regulär, da nach geltendem Recht jeder Kriegsgefangene nach Kriegsende zu entlassen war und er war ja mit seinen Leuten erst nach Kriegsende gefangen genommen worden. Seine Entlassung 1947 erfolgte in Deutschland. Er suchte vergeblich Arbeit im Düsseldorfer Raum und kehrte bald nach Argentinien zurück, wo er vermutlich dann auch das gewünschte neue Leben aufbauen konnte.



Am Mittag des 17. August 1945 erreicht U-977 den argentinischen Hafen Mar del Plata, wo Bootsführer und gesamte Mannschaft mit ihren langen Bärten zunächst angestaunt und dann interniert werden. Schaeffer wird anfänglich verwahrt auf dem argentinischen Kriegsschiff "Admiral Belgrano", das Jahrzehnte später während des Falklandkriegs durch englischen Torpedotreffer mitsamt der Mannschaft versenkt wird. Wie Schaeffer vorausgesehen hat, werden ihm und seiner Mannschaft sogleich Kriegsverbrechen vorgeworfen. In diesem Fall die "Versenkung" des brasilianischen Dampfers "Bahia", der nach Kriegsende und während Schaeffers Fahrtzeit nahe seiner Route gesunken ist. Anhand der vollzähligen Torpedos an Bord seines Bootes und anhand seines Bordtagebuches kann Schaeffer diese Vorwürfe widerlegen. Er und seine Mannschaft werden anschließend an die USA ausgeliefert, auch U-977 wird von Amerikanern abtransportiert. Schaeffer kommt in ein Offizierslager bei Washington und wird monatelang streng verhört. Das neue Gerücht heißt, er habe dem Ehepaar Hitler und hohen NS-Regierungsmitgliedern zur Flucht nach Argentinien verholfen, auch die "Versenkung" der Bahia wird wieder aufgetischt. Noch in US-Kriegsgefangenschaft erhält Schaeffer die Zeitungsnachricht daß sein Boot von den Amerikanern zerstört wurde. Nachdem die sinnlosen Verhöre nicht die gewünschten Enthüllungen über "Hitlers Flucht" liefern, wird Schaeffer nach England gebracht, wo die gleichen Verhörprozeduren und Verdächtigungen erneut beginnen. Erst im Jahr 1947 wird er schließlich aus der Haft entlassen. Im gleichen Jahr findet Heinz Schaeffer in der Zeitung die Sensationsmeldung, daß das US-Unterseeboot "Pickerell" (mit einer deutschen Schnorchelanlage) nach 21 Tagen Unterwasser-Dauerfahrt den absoluten Weltrekord aufgestellt habe.

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